LESEN.
ENTDECKEN.
ERLEBEN.

Teil 22: Lamm oder Löwe?

Noch nicht einmal offiziell eröffnet – und er steht schon da. Nicht vor der Tür, mitten im Raum. Schaut sich um, sagt erst nichts, nimmt alles in sich auf. Für einen Moment denke ich: ein Nachbar, neugierig auf den Ort, an dem früher orthopädische Schuhe verkauft wurden. Vielleicht will jemand wissen, warum dieser große Ohrensessel jetzt dort thront, wo einmal Schuhleisten standen. Mein Mann fragt freundlich, ob er helfen kann. Ein Nicken, ein knappes Lächeln, und die Vorstellung, die ich inzwischen auswendig kenne: „Erhard Löwe. Leseförderung. Seit ein paar Jahrzehnten.“

Es gibt Menschen, die machen Krach, wenn sie kommen. Erhard macht Wirkung. Unspektakulär, aufrecht, oft mit dem Rad, eher Funktion als Fassade. Unscheinbar trotz seiner Größe, die Brille markant, der Blick konzentriert. Überpünktlich. Genau, manchmal so genau, dass man die Uhr danach stellen kann. Bürokratisch? Wenn man so nennen will, was am Ende dafür sorgt, dass Formulare nicht kleben bleiben, Termine halten und Kinder tatsächlich ihren Platz auf dem Sessel finden. Unnachgiebig in der Meinung, wenn sie auf Erfahrung gebaut ist. Streng, wenn die Sache es verlangt. Leger, wenn es um das Outfit geht, maximal bei den Inhalten, minimal bei der Außenwirkung. Ein Mann, der tut, was getan werden muss, nicht etwa um zu glänzen, sondern damit es klappt.

An diesem ersten Tag (wir wussten es beide sofort) war da ein Schatz in den Raum gerollt. Er bringt kein Feuerwerk mit, eher einen Werkzeugkoffer. In ihm: Jahrzehnte Praxis, Lese-Club Hasenheide, stille Führung, die nie auf die Bühne drängt. Er sagt Sätze wie: „Leseförderung ist ein Ultramarathon, kein Sprint.“ Und lebt sie. Er plant, wo andere hoffen. Er hält die Spur, wenn wir vor Begeisterung zu schnell werden. Er zieht die Linie, die Projekte zusammenhält, wenn die Tage eng werden und die To-do-Listen länglich.

„Lamm oder Löwe?“ – beides. Sanft in der Zuwendung zu Kindern, geduldig, humorvoll, mit diesem warmen „Grüß Gott“, das Türen öffnet. Löwe, wenn es um Haltung geht: Bildung für alle, keine Ausnahmen, keine Abkürzungen, keine lauen Kompromisse. Erhard erinnert uns daran, dass Wirkung nicht von Applaus lebt, sondern von Wiederholung, Verlässlichkeit, Sorgfalt. Dass eine Stunde Vorlesen am Dienstag manchmal größer ist als eine große Geste am Samstag.

Es ist nur folgerichtig, dass er heute in der ersten Reihe unseres Fördervereins steht – stellvertretender Vorstand und Herzstück für alles, was mit Ausdauer, Struktur und Qualität zu tun hat. „An der Spitze“ heißt bei ihm nie „im Scheinwerfer“. Es heißt: früh da sein, Listen führen, Rollen klären, Fehler einmal machen und dann nicht mehr. Und genau deshalb hat er seinen Platz dort mehr als verdient. Weil er uns nicht nur erinnert, worum es geht – er sorgt dafür, dass es passiert.

Ich mag, wie er mit seiner Überpünktlichkeit mild lächeln kann, wenn wir wieder einmal fünf Minuten hinterherlaufen. Ich mag, wie er „bürokratisch“ in „verlässlich“ verwandelt. Wie sein „Nein“ nie klein macht, sondern den Weg zum „Ja“ freiräumt. Und wie er, der nach außen so unaufgeregt wirkt, im Inneren eine enorme Wärme mitträgt – für jedes Kind, für jede Geschichte, für dieses Projekt.

Am Ende dieses kleinen Porträts soll nicht mehr stehen als das, was wir fühlen, wenn er den Raum betritt: Ruhe. Richtung. Rückenwind.

An Erhard

Lieber Erhard,
es gibt Sätze, die schreibt man viel zu selten auf. Dieser hier gehört dazu: Ohne Ehrenamt ginge es nicht. Ohne dich ginge es noch viel weniger. Danke für deinen langen Atem, deine Strenge, wenn sie gebraucht wird, und deine Sanftheit, wenn sie alles ist, was hilft. Danke für jedes frühere Ankommen, für jedes genaue Hinsehen, für jedes unbequeme „So nicht“, aus dem ein besseres „So machen wir’s“ wird. Du bist Lamm und Löwe, und genau das macht dich zu einem unserer größten Schätze. Wir sind zutiefst dankbar, dass du da bist – als Kollege, als Mitstreiter, als Freund.

In Liebe und tiefer Dankbarkeit, eure Nicole