Wer den letzten Teil gelesen hat und wer mich kennt, weiß, dass ich oft im Soll-und-Haben verhaftet bin, auch beruflich bedingt. Wer nun aufmerksam gelesen hat, hat festgestellt, dass es dieses Soll-und-Haben bei mir nicht nur beruflich, sondern auch in meinem Herzen und in meiner Seele gibt. Und gerade bin ich dabei, die Differenz zwischen Soll und Haben auszugleichen. Eine fast unmögliche Aufgabe, betrachtet man, wie schnell das Ganze geht – wie schnell unsere Kinder wachsen und wie rasant sich auch Kolibri entwickelt. Aber wer mich kennt, weiß genauso, dass genau diese Aufgaben es sind, die mich reizen, die mich fordern und die mich bisher immer dazu gebracht haben, über mich hinauszuwachsen.
Stellt man sich Kolibri als eine lange Strecke vor, dann würde ich sagen: Wir haben die erste Etappe – von vielleicht fünfzehn – erreicht. Diese erste Etappe war für uns die Phase der Erkenntnis. Herauszufinden, ob die Idee da draußen gebraucht wird. Und heute, ganz klar: Ja, Kolibri wird gebraucht. Nicht, weil staatliche Strukturen versagen oder weil Familien „kaputt“ wären. Sondern weil Zeit fehlt. Zeit miteinander. Zeit zum Vorlesen. Zeit zum Zuhören. Und genau hier, wo im Alltag so oft zu wenig Raum bleibt, versuchen wir mit Kolibri eine Lücke zu schließen. Eine Lücke, die nicht laut ist, aber schmerzhaft spürbar.
Andreas, ein Freund von uns, ist Radfahrer. Manchmal erzählt er, wie sich das anfühlt, nach einer Etappe vom Rad zu steigen – die Beine schwer, aber der Kopf voller Stolz. Genau so fühlt sich Kolibri gerade an. Die Glieder müde, doch der Geist wach. Wir haben viel geschafft. Aber es war nur der Anfang. Und vielleicht ist jetzt der Moment, Kolibri sanft, aber bestimmt in die Richtung zu lenken, in der wir es langfristig sehen: bei den Kindern, die unsere Unterstützung am dringendsten brauchen. Und wo könnten wir sie besser erreichen als in der Schule?
Meine Tochter hat mir in den letzten Monaten deutlich gezeigt, was es heißt, keine Zeit zu haben. Manchmal fehlt es an der Zeit, manchmal fehlt es an der Kraft. Ich sehe das – und ich sehe es nicht nur bei mir.
An euch, die Eltern da draußen: Ich werfe euch nichts vor. Wirklich nicht. Ich bin selbst mittendrin. Ich kenne dieses Spannungsfeld zwischen Job, Alltag, Anspruch und dem Wunsch, einfach präsent zu sein. Genau deshalb sehe ich es als meine gesellschaftliche Aufgabe an, dort einzuspringen, wo ihr es gerade nicht könnt. Wenn ihr nicht in die Leseecke kommt – dann kommt vielleicht Kolibri zu euch. In die Schulen, dorthin, wo Kinder ohnehin sind, und wo wir ihnen direkt begegnen können.
Nach einem langen Abendgespräch schlug mein Mann vor, das anzugehen. Er wollte auf Erhard zugehen, der bereits ein Leseprojekt an einer Grundschule leitet. Gemeinsam wollten wir schauen, ob wir über Erhards Kontakte etwas aufbauen können – ein Projekt, bei dem Kolibris Leseecke direkt in der Schule stattfindet. Nicht als Ersatz für unsere Räume, sondern als Ergänzung. Als Brücke zwischen Institution und Herz.
Ich will nicht zu viel verraten – aber zwei Dinge zeichnen sich bereits jetzt ab. Erstens: Diese Idee wurde im Team mit großer Begeisterung aufgenommen. Und zweitens: Wir werden es mit unseren aktuellen Strukturen nicht stemmen können. Unsere Ehrenamtlichen sind bei Kolibri mit dem Versprechen eingestiegen, dass sie ihre Zeit selbst einteilen können. Und genau das ist unsere Stärke. Doch ein Projekt an Schulen funktioniert nicht spontan. Es braucht Verlässlichkeit. Es braucht Planbarkeit. Es braucht Menschen, die regelmäßig, nach festen Zeiten, dabei sein können.
Das bedeutet: Wir werden eine neue Gruppe von Ehrenamtlichen finden müssen. Menschen, die nicht nur das Herz, sondern auch die Zeit haben, regelmäßig mitzumachen. Damit Kolibri auch im Schulalltag ein fester Anker wird. Ein verlässlicher, liebevoller Termin im Wochenplan.
Und ich, Nicole Feldberger, spreche jetzt einmal zu mir selbst: Merke dir deine Hausaufgaben. Du wirst Kolibri erneut umbauen müssen. Wirst es auf neue Füße stellen. Du wirst Strukturen schaffen, wo vorher Freiraum war. Und du wirst das tun, ohne zu vergessen, dass dich deine Familie ebenso sehr braucht wie die Kinder, die Kolibri besuchen.
Bis zur nächsten Etappe.
Nicole Feldberger