Teil 6: Wegkreuzungen

Während der Autofahrt nach Darmstadt ist die Stille im Wagen greifbar. Mein Mann und ich sind auf dem Weg zu Tanja, einer alten Freundin, mit der Hoffnung, sie für „Kolibris Leseecke“ zu begeistern. Gleichzeitig sind unsere Kinder auf dem Weg zu ihrer Oma, alleine mit dem ICE. Eine Mischung aus Stolz und Sorge durchströmt mich – stolz, dass sie den Mut haben, ihren eigenen Weg zu gehen und sorgenvoll, ob alles gut gehen wird. Ich kann mir lebhaft die Szenarien ausmalen, die eine Zugverspätung verursachen könnten: Das unerklärliche Phänomen einer Signalstörung, die scheinbar nur auftritt, wenn es am wenigsten passt. Der unerwartete Personenschaden, der jeden Reisenden stumm das Schicksal der betroffenen Person bedauern lässt. Oder auch der klassische technische Defekt, der die Fahrgäste in ein unfreiwilliges ‘Wer-kennt-sich-am-besten-mit-Bahntechnik-aus’-Spiel verwickelt. Bei all diesen Gedanken schmunzele ich in mich hinein und versuche, die aufkommenden Sorgen wegzuschieben, um mich auf das bevorstehende Treffen mit Tanja zu konzentrieren.

Wir treffen Tanja zu Hause und nehmen unseren gemeinsamen Weg zum “Shiraz”, einem angesehenen persischen Restaurant, auf. Unsere Strecke führt uns am markanten Georg-Christoph-Lichtenberg-Haus entlang der Dieburger Straße vorbei. Dieses einst als Hotel erbaute und später zu einem Adelssitz umgewandelte Gründerzeitgebäude hält standhaft der allzu monotonen Struktur der Beton- und Glasbauten stand, die versuchen, das ästhetische Erscheinungsbild der Straße zu beherrschen. Seine Präsenz ist ein leises, aber bestimmtes Statement gegen eine scheinbar lustlos anmutende und eintönige Moderne. Wie ich bereits im 2. Teil des Blogs betonte: “Ja, es sind die leisen Töne, die uns bewegen und in der Stille den größten Klang erzeugen” – passt auch hier gut. Unweit davon entdecken wir die Ateliers einheimischer Künstler, deren kreative Ausstrahlung dem städtischen Panorama einen lebendigen Hauch verleiht.

Während wir uns durch die aktiven Straßen von Darmstadt bewegen, tauschen wir Neuigkeiten aus unseren Leben aus. Tanja spricht von den Höhen und Tiefen, die sie in den letzten Jahren erlebt hat. Es ist offensichtlich, dass diese Erlebnisse sie geformt haben, sie stärker und weiser gemacht haben. Doch trotz aller Veränderungen ist sie immer noch die kluge, lebensbejahende und faszinierende Frau, die ich kenne und schätze.

Im “Shiraz” kommen wir schließlich zu einem weiteren Grund unseres Treffens – während des Essens erklären mein Mann und ich ihr das Projekt „Kolibris Leseecke“. Ich bin beeindruckt, wie gut wir als Team harmonieren. Wo ich Lücken lasse, springt er ein, wo er pausiert, nehme ich den Faden auf. Unsere vorherigen Gespräche über das Projekt haben offensichtlich Früchte getragen.

Tanja lauscht unseren Ausführungen mit bemerkenswerter Aufmerksamkeit. Sie hat Fragen, zahlreiche Fragen, und das lässt mein Herz hüpfen. Sie hat Interesse, das ist klar, aber sie möchte nicht nur eine nominelle Figur sein – wenn sie ein Teil unseres Projekts wird, dann will sie mit ganzem Herzen und voller Engagement dabei sein. Sie äußert jedoch Bedenken, was ihre tatsächlichen Möglichkeiten betrifft. Die Distanz zwischen uns und ihre gegenwärtige Lebensphase, die von hohen Anforderungen geprägt ist, stellen echte Hürden dar. Ihre Sorgen liegen nicht darin, sich nicht genug engagieren zu können, sondern darin, ob es ihr möglich sein wird, aktiv mitzuwirken. Sie bringt das mit einer für sie typischen aufrichtigen Direktheit zum Ausdruck.

Aber wir brauchen Tanja, und ich hoffe, dass jede meiner Äußerungen diese unausgesprochene Botschaft transportiert: ‘Tanja, du bist genau die Richtige für dieses Projekt. Dein scharfer Verstand und dein großes Herz sind genau das, was ‘Kolibris Leseecke’ braucht. Bitte sag ja.’ Ich betone immer wieder, wie ernst wir ihre Bedenken nehmen und dass wir alles tun werden, um sicherzustellen, dass ihr Engagement für ‘Kolibris Leseecke’ mit ihrem derzeitigen Lebensstil harmoniert. Ein entschiedenes “Ja” von Tanja bleibt aus, ihre Bedenken scheinen eine stärkere Tendenz zum “Nein” aufzuweisen.

Unsicherheit und Antizipation erfüllen den Raum. In meinem Inneren spüre ich einen Sturm aus Hoffnung und Enttäuschung. Meine Gefühle sind ebenso ungewiss und aufgehängt wie Tanjas endgültige Entscheidung. Mein Mann spürt diese Stimmung und beginnt, das Projekt im Detail zu besprechen, die Planung, die Lücken und noch offene Fragen. Tanja hört aufmerksam zu und begibt sich langsam in den Dialog, indem sie Hinweise gibt und mögliche Lösungswege aufzeigt. Die Temperatur im Raum scheint zu steigen, eine verhaltene Aufbruchstimmung macht sich breit.

Und da ist es wieder, dieses Gefühl in mir: Im Herzen bin ich bereits fest davon überzeugt, dass wir Tanja nicht nur als Mitglied brauchen, sondern als unsere kluge Kritikerin, als jemanden, der uns hilft, unsere Ideen zu prüfen und zu verbessern. Ihre Präsenz, ihre Weisheit, ihr kritischer Geist – sie sind unverzichtbar für uns.

Unsere Diskussion findet ihren Höhepunkt und dann, fast überraschend, kommt es: Tanjas “Ja”. Noch in der Schwebe, zwischen den Worten und Gedanken, zwischen den Möglichkeiten und Fragen, entscheidet sie sich dafür, den Weg mit uns zu gehen. Ihr Ja ist nicht nur eine Zustimmung, sondern eine Verpflichtung, eine Zusage. Sie ist bereit, sich mit uns auf dieses Abenteuer einzulassen, ihre Weisheit und ihren kritischen Geist in unser gemeinsames Projekt einzubringen. Trotz ihrer anfänglichen Bedenken, trotz der Unklarheiten und Unwägbarkeiten, entscheidet sie sich dafür, Teil von uns zu sein. Und in diesem Moment, da Tanjas “Ja” den Raum erfüllt, spüre ich eine tiefe Erleichterung und Freude. Denn ihr “Ja” ist auch ein Zeichen des Vertrauens – in uns, in das Projekt, in die Zukunft, die wir gemeinsam gestalten werden. Es ist ein großes Geschenk, und ich bin überglücklich, sie an unserer Seite zu wissen.

Der Erfolg dieses Treffens lässt mein Herz höher schlagen. Dieser zweite, bedeutsame Meilenstein, den wir erreicht haben, bekräftigt meinen Glauben an unser Projekt. Mit Tanjas Zustimmung offenbart sich das großartige Potential der „Kolibris Leseecke“. Ich bin überzeugt, dass unsere gemeinsame Leidenschaft für das Lesen uns auf diesem spannenden Abenteuer leiten wird.

Ich freue mich schon auf die kommenden Treffen mit den anderen Gründungsmitgliedern und bin zuversichtlich, dass sie ebenso begeistert sein werden wie Tanja.

Bis dahin,
Nicole Feldberger